Verspätungsalarm

Wanduhr auf 10 vor 6 an einer leeren weißen Wand
Photo by Cats Coming on Pexels.com

Meine Mutter kommt eigentlich immer zu spät. Dabei rede ich nicht von fünf Minuten, sondern eher von zwei Stunden! Ich habe Erinnerungen an meine Kindergartenzeit, wie ich morgens als letztes Kind gebracht wurde, während das Kindergartentreiben schon in vollem Gange war, und wie ich mittags (oder eher nachmittags) als letztes Kind geholt wurde, obwohl ich nicht zu den „Nachmittagskindern“ gehörte. Oft saß ich dann wartend da, schaute den anderen Kindern beim Essen zu und wurde vereinzelt sogar von den Erzieherinnen gefragt, wo meine Mutter denn bliebe, was sicherlich nicht böse gemeint war, mir aber doch immer einen kleinen Stich versetzte – woher sollte ich das denn wissen? Ich wäre auch lieber schon zu Hause gewesen…

Prägung aus der Kindheit

Wenn ich heute versuche zu beschreiben, was ich damals gefühlt habe, dann würde ich sagen, es war eine Mischung aus Unsicherheit, vielleicht auch ein wenig Angst und Enttäuschung, aber vor allem war es mir sehr unangenehm und absolut peinlich. Dass ich noch da saß, beaufsichtigt werden musste und meine Anwesenheit irgendwie zu Unannehmlichkeiten führte, während ich eigentlich längst abgeholt sein sollte. Ich glaube ich fühlte mich für diesen Zustand verantwortlich gemacht, obwohl ich ja wirklich gar nichts dafür konnte. Diese Erinnerung sitzt so tief in mir drin, dass ich lange Zeit alles dafür getan habe, nicht zu spät zu kommen, weil es mir einfach so peinlich war. Auf der anderen Seite habe ich geradezu allergisch auf Verspätungen anderer reagiert. Ich hatte es einfach satt in der Schwebe zu hängen, zu warten und nicht zu wissen, wie lange dieser Zustand nun andauert. Mein Wartevermögen war einfach ausgeschöpft.

Heute stört es mich gar nicht mehr so sehr. Die meisten Menschen sagen meist kurz Bescheid, wenn es später wird, und ich kann mich darauf einstellen. Besonders, wenn man ohnehin noch zu Hause ist, oder sich der Besuch verspätet, kann man die Zeit ja auch gut nutzen. Ich bin gelegentlich sogar selbst zu spät, allerdings sehr ungern und fast immer mit einem schlechten Gewissen.

Wenn meine Mutter heute noch zu spät kommt…

Bei meiner Mutter jedoch fällt es mir noch immer sehr schwer, Verspätungen gelassen zu nehmen. Das liegt zum einen daran, dass sie häufig erst Bescheid gibt, dass sie zu spät ist, wenn sie schon längst zu spät ist, ich vielleicht schon am Bahnhof stehe, um sie abzuholen und mir die Verspätung auch ohne ihre Info bereits aufgefallen ist. Ich habe meinen Tag geplant, bin vielleicht früher von einer anderen Verabredung gegangen, damit ich rechtzeitig am Bahnhof bin und sie tauch einfach nicht auf. Rufe ich sie dann an, ist erstmal das Handy aus. Ich schreibe ihr die ersten genervten Textnachrichten, wo sie denn sei. Der Zug mit dem sie ankommen wollte war längst da, sie jedoch nicht.

Es kann schon mal eine halbe Stunde bis Stunde vergehen, bevor sie endlich zurück ruft, um mir dann mitzuteilen, dass es nochmal eine Stunde dauert, bis sie da ist. Begründung: das Taxi, das sie zum Bahnhof fahren sollte, kam nicht, deshalb hat sie den Zug verpasst. Den nächsten hat sie dann auch nicht gekriegt und konnte erst den übernächsten nehmen (weshalb sie nun also zwei Stunden verspätet kommt). Hätte sie mir gleich Bescheid gegeben, hätte ich nicht eine Stunde sinnlos am Bahnhof rumgestanden, mir einen Haufen Nerven und Frust gespart und hätte in der Zeit zu Hause wenigstens etwas sinnvolles tun können, anstatt einfach nur in der Kälte zu stehen und zu warten.

Wenn sie dann endlich da und meine Laune im Keller ist, kommt weder eine Erklärung noch eine Entschuldigung. Kein „es tut mir leid,“ kein „ich hab es wirklich versucht, aber ich hab es einfach nicht geschafft.“ Nichts! Zu diesem Zeitpunkt bin ich bereits kurz vorm Platzen und würde sie eigentlich am Liebsten direkt in den nächsten Zug nach Hause setzen. Und so haben schon so viele unserer Zusammenkünfte begonnen. Dazu vielleicht später einmal mehr…

Zum anderen fuchst es mich einfach so sehr, weil wir schon unzählige Mal darüber gesprochen haben. Ich habe ihr schon 100.000 mal erklärt, wie sehr mich das ärgert, wenn sie a) so viel zu spät kommt, b) sie noch nicht einmal Bescheid geben kann und sich c) dann noch nicht einmal entschuldigen kann. Dass meine Laune dann erstmal im Keller ist, wir so viel Zeit mit streiten und darüber reden vergeuden, die wir doch eigentlich schon viel sinnvoller hätten nutzen können. Ich verstehe auch nicht, dass wenn wir uns eh nur ein paar Tage, oder vielleicht auch nur ein paar Stunden sehen, sie bereit ist, zwei Stunden dieser wenigen Zeit herzugeben?!

Als sie das erste Mal ihren Enkel kennengelernt hat, hatten wir uns für einen Nachmittag verabredet. Sie wollte mit einem Bus um 13 Uhr ankommen und kam dann gegen 15Uhr, obwohl im Vorfeld schon klar war, dass sie den Bus um 18Uhr nach Hause nehmen muss. Sie hatte sich doch so sehr auf diese Begegnung gefreut, warum schafft sie es dann nicht, pünktlich zu kommen? Aber alles Reden und Diskutieren ändert nichts! Gar nichts! Wie oft hatten wir schon ein und dieselbe Diskussion, wie oft habe ich mir schon vorgenommen, dass ich mich erst auf den Weg zum Bahnhof mache, wenn sie mich anruft, dass sie jetzt da ist. Wie oft hat sie mir schon Tage vor der Abreise am Telefon versprochen, dass es dieses Mal klappen wird, und wenn sie mit dem Taxi zum Bahnhof fahren muss. Aber nein. Am Ende ist sie doch wieder zu spät. Viel zu spät.

Wenn Zwänge zu Verspätung führen

Jetzt könnte man natürlich sagen, dass ich mich vielleicht einfach damit abfinden muss, dass sie eben immer zu spät kommt und kommen wird, dass sie es ja auch nicht mit Absicht oder gar böswillig tut, und ich mich einfach daran gewöhnen muss. Mach dich mal locker, Chill doch mal, So ein Aufstand wegen ein bisschen Verspätung. Aber es sitzt einfach schon so lange so tief, und löst jedes mal wieder so viele Emotionen und Erinnerungen aus, dass ich einfach nicht ruhig bleiben kann. Denn einerseits habe ich einfach die Hoffnung, dass sie sich an ihr Wort hält, und es beim nächsten Mal wirklich schafft und andererseits wirft mich dieses endlose, ungewisse Warten jedes Mal wieder zurück in den Kindergarten und ich sehe mein 4-jähriges Ich dort sitzen, wie es auf seine Mama wartet, die einfach nicht kommt. Und irgendwie komme ich aus diesem Tunnel einfach nicht raus.

Damit wäre aber nur eine Perspektive der ganzen Situation geschildert, und das ist ja nicht gerade fair play.

Wenn ich also meine Mutter frage, woran es denn diesmal gelegen hat, kommt nach erstmaligem Flunkern (auch dazu an anderer Stelle mehr) und noch drei Mal nachhaken heraus, dass sie es einfach nicht geschafft hat aus der Wohnung zu gehen. Dass sie nochmal den Herd kontrolliert hat. nochmal im Rucksack geschaut hat, ob wirklich alles da ist. Alle Fenster zu? Alle Lichter aus? Nochmal auf Toilette und dann nochmal alles von vorne. Und ganz nebenbei „rutscht ihr die Zeit so durch die Finger“ und sie merkt gar nicht, wie spät es schon ist. Und das glaube ich ihr auch! Meine Aufregung über ihre Verspätung erscheint mir auf einmal völlig übertrieben. Klar ist es nervig, aber ich kann es nun mal nicht ändern und sie offensichtlich ja leider auch nicht.

Was aber wirklich schlimm ist an der ganzen Sache, und das tut mir im Herzen weh, ist, dass ihre Krankheit und damit verbundene Zwänge sie so sehr von dem abhalten, worauf sie sich schon die ganze Woche gefreut hat. Sie allein könnte an ihrer Pünktlichkeit arbeiten und kann es aber doch nicht. Und dabei freut sie sich doch so sehr, würde am liebsten jede Minute auskosten und steht sich damit aber auch selbst im Weg. Denn je größer die Vorfreude desto schwieriger scheint es ihr zu fallen, sich auf den Weg zu machen. Und dann kommt sie in ein Hamsterrad: Sie merkt, dass der erste Zug weg ist, sie es mal wieder nicht geschafft hat und ich sicher enttäuscht bin. Also setzt ein Fluchtmechanismus ein, sie schaltet vielleicht aus Angst vor vorwürfen erstmal ihr Handy aus un tut gar nichts. Sagt auch nicht Bescheid. Vielleicht ist sie auch von sich selber enttäuscht und die ganze Sache bremst sie so sehr aus, dass sie den nächsten Zug auch noch verpasst. Was natürlich alles nur noch schlimmer macht. Weil sie dann aber doch nicht aufgibt, sammelt sie ihre Kräfte und überwindet die Hürde aus dem Haus zu gehen, läuft zum Bahnhof und sitzt endlich im Zug, leider eben mit zwei Stunden Verspätung.

Damit ist die ganze Sache für Ema ja eigentlich schon Kraftakt und Anstrengung genug. Muss ich ihr dann auch noch eine Moralpredigt halten, wenn sie es endlich geschafft hat, sich aus ihren Zwängen zu befreien? Wohl kaum. Stattdessen sollte ich jubeln und sie loben, dass sie es alleine geschafft hat. Fürs nächste Mal versuche ich mir diese Sicht der Dinge vor Augen zu halten! +++

Wie gehst du mit Pünktlichkeit und Verspätung um? Hast du vielleicht auch eine tiefe Prägung in dieser Hinsicht?

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