Mit Verhaltensweisen umgehen (lernen)

Ein Mann der in einen weißen Telefonhörer schreit.
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Wenn dieser Post online geht, hole ich wahrscheinlich gerade meine Mutter vom Bahnhof ab. Wie passend.

Denn seit einiger Zeit schon muss ich immer wieder an eine Situation denken, die auch mit ihr und einem Bahnhof zu tun hat.

Als ich diesen Blog angefangen habe, dachte ich, ich würde in erster Linie über das Leben und die Lektionen mit meiner Mutter schreiben. Tatsächlich schreibe ich darüber gar nicht so oft.

Im Laufe der Zeit habe ich festgestellt, dass viele Erfahrungen aus der Vergangenheit schon seit Jahren in mir arbeiten. Gewisse Dinge kommen immer mal wieder an die Oberfläche und dann schnappe ich sie mir und teile sie hier.

Ich gehe dann eine Situation oder Erfahrung gedanklich durch und merke im Prozess des Schreibens, wie ich mich nochmal ganz neu damit befasse und auseinandersetze.

Dabei reflektiere ich meine eigene Rolle in dem Ganzen, wie mein (Fehl-)Verhalten auch das Verhalten meiner Mutter beeinflusst und was das dann wieder für Konsequenzen hat. Mir wird dann leider oft bewusst, wie ratlos ich doch noch immer bin, wie wenig ich die Krankheit meiner Mutter nach all den Jahren einschätzen kann, dass ich noch immer herzlich wenig verstanden habe und wie ungeduldig ich doch häufig mit ihr bin.

Du kannst dir also vielleicht vorstellen, was das manchmal für ein emotionaler Kraftakt ist, einen solchen Beitrag zu schreiben und wie gut es mir gleichzeitig tut, die ganze Lage mal nüchtern als „Autorin“ zu betrachten und nicht nur als (a) involvierte Person und (b) Tochter, d.h. auch emotional betroffene Person.

Und je mehr ich mich von meiner subjektiven Wahrnehmung einer Situation lösen und mir einen objektiveren Überblick verschaffen kann, desto mehr schwindet oft die Wut.

Wie prall gefüllte Luftballons die in einer dichten Traube zusammenstecken und dann nach und nach zerplatzen. Einfach verpuffen und weg.

So verpufft langsam die Wut die ich schon seit Jahrzehnten in mir trage.

Und dann lass ich die Thematik eine Zeit lang ruhen, bevor ich mich dem nächsten emotionalen Kraftakt, der nächsten Wunde, der nächsten Enttäuschung, widmen kann.

Und deshalb dauert es dann manchmal (s)eine Zeit, bis ich zu diesem Thema wieder etwas schreibe.

Jetzt also wieder zurück zum Bahnhof…

Meine Mutter geht aufgrund ihrer Erkrankung regelmäßig ein paar Mal im Jahr zu einer Psychotherapeutin, die in (nur) 20 Minuten beurteilen und erkennen soll, wie und ob sich der Gesundheitszustand meiner Mutter seit dem letzten Termin verbessert oder verschlechtert hat. Sie verschreibt Medikamente und stellt diese bei Bedarf neu ein.

Vor ein paar Jahren bat mich meine Mutter zu einem dieser Termine mitzukommen. Ich wollte ihr den Gefallen gerne tun und war auch daran interessiert zu sehen, wie ein solches Gespräch abläuft.

Also nahm ich die Zugfahrt von drei Stunden pro Strecke auf mich, nahm extra einen Zug früher, um eventuelle Verspätungen ausgleichen zu können, und war eine halbe Stunde vor Termin mit meiner Mutter am Bahnhof verabredet, damit wir noch genug Zeit hatten, zur Praxis zu laufen.

Der Termin war um 16 Uhr, wir waren für 15:30 Uhr verabredet. Mein Zug war um 15 Uhr da. Ich wartete also und vertrieb mir die Zeit, doch meine Mutter kam und kam nicht.

Um halb vier noch keine Spur von ihr. Um 15:40 Uhr war sie noch immer nicht da. Ich rief sie an. Bei den ersten Versuchen ging keiner ran. Schließlich nahm sie endlich ab. Nach ihrem „Hallo“ und meinem „Mama, wo bleibst du denn,“ war das Gespräch dann auch schon wieder weg. Als ich sie daraufhin nochmal anrief, war das Handy ausgeschaltet.

Um 15:50 Uhr tauchte sie endlich in der Ferne auf. Ich war bis dahin schon stink sauer.

Das noch nicht genug, kam sie doch tatsächlich an und tat so, als wäre alles in Ordnung. Ich konnte mich kaum zurückhalten und blaffte sie direkt an, was ihr denn einfallen würde so spät zu kommen, wenn ich doch extra herkomme, weil SIE mich darum gebeten hatte, mit IHR zum Arzt zu gehen. Dass ich gerade drei Stunden im Zug gesessen hatte, um ihr diesen Gefallen zu tun und sie erscheint einfach nicht?!

Und meine Mutter, die Ruhe weg, hält mir allen ernstes einen kleinen Reisewecker vor die Nase, auf dem es genau 15:30Uhr ist. Was ich mich denn so aufregen würde, sie sei doch pünktlich.

Ich war völlig baff. Wütend und fassungslos zugleich. Das war jetzt nicht ihr ERNST!!!

Einen Moment lang habe ich mich gefragt, ob sie sich an diesem Wecker orientiert hatte und deshalb wirklich dachte, sie läge gut in der Zeit?! Dann wäre das natürlich trotzdem dumm gelaufen, aber ich könnte ihr dann an dieser Stelle keinen Vorwurf machen. Kann ja jedem mal passieren.

Das blöde war nur, meiner Mutter passierte sowas ständig. Weshalb sie leider auch an Glaubwürdigkeit verlor und man selber immer in der prekären Lage war, nicht genau zu wissen, ob sie einen anlog, oder es sich tatsächlich um einen „typischen Fall von dumm gelaufen“ handelte.

Aber dann war mir schnell klar, dass sie gewusst haben muss, dass sie längst zu spät ist. In der ganzen Stadt hängen Uhren. Sie kam direkt von der Arbeit und hatte da sicherlich auch noch auf die Uhr geschaut, ihr Wecker war ja immer im Rucksack im Schließfach, und sie hatte ihr Handy dabei, auf dem sie ja die aktuelle Uhrzeit sehen konnte – spätestens nach unserem Telefonat.

Hatte sie wirklich ihr Handy ausgeschaltet, damit ich sie nicht mehr erreichen konnte und die Zeit auf dem Wecker umgestellt, damit ich nicht sauer war? Das konnte doch nicht sein?!

Tatsächlich habe ich schon häufig beobachtet, dass meine Mutter aus so einer Problemsituation zu flüchten versucht, indem sie z.B. ihr Handy ausstellt. Das Problem an der ganzen Sache ist, und das habe ich ihr schon so oft versucht zu erklären, dass es die ganze Sache nur noch schlimmer macht.

Vor dem Konflikt kann sie vielleicht fliehen, solange wir räumlich noch getrennt sind, sobald wir aber aufeinander treffen, etwa weil sie mich besuchen kommt oder wir für ihren Arzttermin verabredet sind, explodiert die ganze Situation. Indem sie sich dem Problem entzieht, so lange sie kann, macht sie es umso schlimmer, sobald sie es nicht mehr kann.

Wie oft habe ich ihr schon gesagt: „Ruf mich doch einfach an und sag, dass es später wird. Dann weiß ich wenigstens Bescheid.“ Aber dieses endlose warten, und zwischenzeitlich gar nicht mehr zu wissen, worauf man eigentlich wartet. Am ungemütlichen Bahnhof nachdem man drei Stunden Zug gefahren ist. Das fühlt sich an wie im Regen stehengelassen.

Und dann den Wecker umzustellen?! Ist ihr denn nicht klar, dass sie zwar den Wecker, aber nicht die Zeit zurückdrehen kann?! Und selbst, wenn meine Wut dadurch etwas gesänftigt wäre, wir ja trotzdem nicht mehr rechtzeitig zum Arzt kommen würden und man ihr ja trotzdem den Vorwurf machen könnte, dass sie bei solch wichtigen Terminen doch sichergehen muss, dass sie rechtzeitig kommt und ihre Uhren richtig laufen?

Aber so ist das eben bei meiner Mutter. Ihre Uhren laufen in vielerlei Hinsicht anders. Ganz anders.

Was auch immer genau passiert ist, warum der Wecker nicht richtig ging und das Telefongespräch auf einmal weg und das Handy dann aus war: Irgendwas war da doch im Busch.

Und dann frage ich mich immer: WARUM?

Warum stellt sie lieber ihren Wecker um, als mich anzurufen und mir Bescheid zu geben? Hat sie Angst vor mir? Hat sie Angst vor meiner Reaktion? Schämt sie sich? Kann sie sich selber nicht eingestehen, dass sie es wieder verbockt hat? Oder mir gegenüber nicht? Ich weiß es nicht!! Keinen blassen Schimmer.

Wann immer ich mit ihr darüber spreche, schaut sie mich nur mit großen unschuldigen Augen an und summt in regelmäßigen Abständen ein zustimmendes „mhhhmm“ in meine Richtung. Sie sieht es ja meistens ein, aber sie schafft es trotzdem nicht, etwas daran zu ändern.

Ach Mensch Mama, wenn wir doch nur wüssten, wo genau das Problem liegt…

Ich glaube ich wäre so viel weniger wütend, wenn sie einfach direkt Bescheid geben würde: „Du, ich hab es wieder nicht geschafft, es wird später, tut mir leid. Danke trotzdem, dass du extra hergekommen bist.“ Fertig.

Das blöde an der ganzen Geschichte, und an Verhaltensweisen wie diesen, ist ja auch, dass es damit dann noch nicht erledigt ist. In unserem Fall ist es das zumindest nie.

Zum Arzttermin kamen wir natürlich zu spät und hatten dann nur noch zehn Minuten Zeit für den Termin anstatt 20. ZEHN Minuten, um den Gesundheitszustand eines psychisch kranken Menschen einzuschätzen, ist meiner Meinung nach ein Ding der Unmöglichkeit. In zweierlei Hinsicht. Aber das ist ein anderes Thema.

Das ist noch das kleinste Übel.

Viel schlimmer ist eigentlich, dass der komplette Tag nach so einem Vorfall komplett im Eimer ist.

Den gesamten Weg zum Arzt habe ich versucht aus meiner Mutter herauszubekommen, warum sie jetzt wieder zu spät ist. Warum sie sich nicht meldet. Ich habe ihr mit lauter Stimme, enttäuscht und wütend gesagt, wie respektlos ich das finde, dass sie mich so weit fahren lässt und dann selber so viel zu spät kommt. Und dann noch nicht einmal Bescheid sagt.

Wie dreist und gemein. Dass ich sie doch nur ihr zu Liebe zum Termin begleiten wollte, weil sie mich drum gebeten hatte. Und sie weiß es gar nicht zu schätzen und lässt mich einfach stehen…und und und.

Aber sie konnte mir nicht erklären, warum sie es nicht geschafft hat. Auch nicht, warum das Handy plötzlich aus war oder warum der Wecker falsch lief.

Und dann sitzen wir zusammen beim Arzt im Sprechzimmer und ich kann kaum sprechen vor Wut. Dabei wollte ich meine Mutter ja UNTERSTÜTZEN, mir genau erklären lassen, warum sie welche Medikamente in welchen Mengen bekommt und ob wir eines der Medikamente nicht ein wenig runterdosieren könnten.

Kennst du das Gefühl?

Da willst für einen geliebten Menschen etwas erreichen und im gleichen Moment bist du so wütend, enttäuscht und verletzt von genau diesem Menschen, dass du eigentlich gar keine Lust mehr hast?!

Dieser Mensch, der dir eigentlich Leid tut, der in seiner Krankheit gefangen, machtlos und hilflos ist und gleichzeitig genau aufgrund dieser Krankheit in diesem Moment der Bösewicht ist.

Ich kann dir sagen, das ist völlig absurd!

Und nach Momenten und Tagen wie diesen komme ich abends ratlos nach Hause und frage mich, was da eigentlich los ist. Kann und darf ich meiner Mutter wirklich böse sein? Ist es ein Teil ihrer Persönlichkeit, an dem sie einfach etwas ändern muss? Oder Teil ihrer Krankheit, an dem und der sie einfach nichts ändern kann? Oder beides?

Bringt es überhaupt etwas, darüber zu sprechen und ihr zu erklären, warum mich solche Dinge total aus der Fassung bringen, oder finde ich mich einfach damit ab und sparen mir die Energie?

Gleichzeitig werden doch jedem Kind Grenzen gesetzt. Man spricht über Fehlverhalten und seine Konsequenzen. Was okay ist und was nicht geht.

Allerdings versuche ich seit über 20 Jahren meine Mutter zu verändern und ehrlich gesagt hat bis jetzt noch KEINE Standpauke Verbesserung bewirkt. Noch keine Aufregung hat sich gelohnt. Mit fortschreitender Krankheit wird es eigentlich eher schlimmer.

Dann kann ich es ja eigentlich auch gleich lassen. Und wir sparen uns die Aufregung.

Du siehst ich bin etwas ratlos mit der ganzen Misere. Ich habe nach all den Jahren keine Lust mehr auf dieses „nicht zu Wissen was los ist“, ich habe auch keine Energie mehr, mich aufzuregen. Und keine Kraft für Standpauken.

Vielleicht wäre es da doch das beste, wenn ich für mich meine Konsequenzen aus der Sache ziehe. Dann warte ich in Zukunft eben nur noch 10 Minuten und fahre dann einfach wieder nach Hause. Wenn sie mich besuchen mag, dann soll sie einfach die letzten Meter vom Bahnhof mit dem Taxi zu mir kommen und wenn sie da ist ist sie da.

Dann besuche ich sie eben nicht mehr ganz so oft, ich lasse mich nicht mehr auf Uhrzeiten ein und nehme Abmachungen vielleicht auch nicht mehr ganz so ernst. Nicht um sie zu verletzen, sondern um mich zu schützen.

Vielleicht ist es das beste so. Für uns beide. +++

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